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Buchkritik «Cerro Torre – Mythos Patagonien»
Der unmögliche Berg
15. Mai 2008 | Selten ist ein Bergsteiger so spektakulär gescheitert wie Cesare Maestri – nicht am Berg, sondern an sich selber.
Die Gegend ist karg, fast menschenleer und liegt am unteren Ende der Welt, im Süden Argentiniens, fast schon auf Feuerland. Ein paar kleine Dörfer gibt es dort, die im Zuge von Grenzstreitigkeiten zwischen Chile und Argentinien errichtet wurden, sonst nur kargen Boden, das Patagonische Inlandeis (nach der Antarktis und Grönland die drittgrösste Eisfläche der Welt) – und Sturm. Sturm und schlechtes Wetter ohne Ende. Eine Gegend zum Davonlaufen, stünden dort nicht der mächtige Granitklotz des Fitz Roy und daneben die Nadel des Cerro Torre, des vielleicht schönsten und schwierigsten Bergs der Welt. Und gäbe es da nicht die seit fünfzig Jahren anhaltende Diskussion darüber, wer diesen Berg als Erstes bestiegen hat.
Unzählige Besteigungsversuche sind gescheitert und scheitern immer noch – am schlechten Wetter und an den klettertechnischen Schwierigkeiten, denn meist ist der grifflose, oft senkrechte Fels mit einem Eispanzer belegt. Dabei ist der Cerro Torre gerade mal 3128 Meter hoch. 1958 versuchten es gleich zwei italienische Expeditionen (in Argentinien gibt es eine grosse italienische MigrantInnengemeinde), beide traten bald den Rückzug an. Hatte Lionel Terray, der grosse französische Alpinist, doch recht behalten? Der stand 1952 als Erster auf dem Fitz Roy und nannte den Cerro Torre «unmöglich». 1959 kehrte Cesare Maestri, der 1958 schon dort gewesen war, an den Berg zurück, der ihn seither nicht mehr loslässt. Mit Toni Egger wagte er in arktischen Verhältnissen einen neuen Versuch. Egger kam dabei um, Maestri reklamierte nach dem Abstieg den Erfolg. Aber so recht wollte ihm das niemand glauben. Es gab keine Belege, Maestri – ein exzellenter Felskletterer – verhedderte sich bei den Details, etwa bei der Routenbeschreibung, und verweigerte bald alle näheren Auskünfte.
Als die Zweifel an seiner Geschichte immer lauter wurden, trat er 1970 nochmals an, schleppte einen schweren Kompressor mit, wählte eine andere Route (über seine «erste» ist bis heute keine Begehung gelungen) und bohrte sich mit seinen Leuten bis zum Eispilz, der auf dem Gipfel sitzt. Eine anachronistische Gewaltanstrengung – denn just zu diesem Zeitpunkt wandten sich immer mehr BergsteigerInnen von den in den sechziger Jahren üblichen technischen Steighilfen ab. Der stolze Maestri, der sich selber einen Anarchisten nannte, wurde weltweit zum Gespött.
Was treibt einen mit solcher Leidenschaft, mit so grosser Verzweiflung gar, immer wieder zu einem bestimmten Berg hin? Wie wichtig sind Siege, wie schmerzhaft Niederlagen? Wie geht man damit um? Tom Dauer zeichnet in seinem hervorragenden Buch «Cerro Torre» ein feines, exzellent recherchiertes Porträt von einem grossen Bergsteiger, der grandios scheiterte – nicht am Berg, sondern an sich und seiner Obsession. Das Buch bietet mehr als ein Psychogramm: ausgezeichnete Bilder, genaue Routenbeschreibungen (für alle, die wochenlang in Schlechtwetter festsitzen wollen), sachkundige Beiträge von namhaften ExpertInnen des Bergjournalismus, historische Exkurse. Aber im Mittelpunkt steht ein zutiefst verletzter Mensch, der bis heute daran nagt, dass seine Leistung nicht von allen anerkannt wird. Denn das – und nicht der Gipfel – war das Ziel seines Lebens. (pw)